Şahin
Çalışır

27. December 1992

Autobahn 52 bei Meerbusch (Nordrhein-Westfalen)

Leben des Opfers

Şahin Çalışır wurde am 17. Oktober 1972 im Dorf Ulu der Provinz Kastamonu in der Türkei geboren. Als Kleinkind kam er schließlich nach Deutschland und verbrachte seine Kindheit und Jugend in Duisburg-Marxloh.

Şahin war ein ruhiger, zurückhaltender Mensch, der bei technischen Aufgaben großes Talent zeigte. So konnte er beispielsweise einen Zauberwürfel innerhalb kürzester Zeit korrekt lösen. Seine Begeisterung für Technik führte ihn zu einer Ausbildung als Schlosser bei der renommierten Duisburger Stahlfirma Thyssen. Er war ein zuverlässiger, pünktlicher und erfolgreicher Auszubildender.

Auch im Sport war Şahin ehrgeizig. Während eines Besuchs in seinem Heimatdorf in der Provinz Kastamonu forderte er einen Verwandten zu einem Klimmzug-Wettbewerb heraus. Obwohl er anfangs unterlag, trainierte er in den darauffolgenden Tagen unermüdlich, bis er seinen Gegner deutlich übertraf.

Kurz vor seinem Tod hatte Şahin seinen Führerschein gemacht. Voller Stolz borgte er sich das Auto seiner Schwester und seines Schwagers, die aus Ludwigsburg zu Besuch waren. Mit seinen Freunden wollte er einen Ausflug machen. Es war das letzte Mal, dass er das Elternhaus in Duisburg-Marxloh verließ.

Formen des Gedenkens

Das Gedenken an Şahin Çalışır wird maßgeblich von antirassistischen Aktivist*innen und seinen Familienangehörigen wachgehalten, die seit mehreren Jahren auf diversen Social Media Kanälen sowie im Rahmen von Publikationen, Blogposts, Reden auf Gedenkveranstaltungen etc. über seine Todesumstände aufklären und Gerechtigkeit fordern.

Am 27. Dezember 2020, dem 28. Todestag von Şahin Çalışır, fand zum ersten Mal eine öffentliche Gedenkveranstaltung vor dem Amtsgericht in Neuss statt. An der Veranstaltung nahmen etwa 50 Menschen teil, um an sein Schicksal zu erinnern und ein Zeichen gegen rechte Gewalt zu setzen. Orhan Çalışır, Şahins Cousin, bezeichnete in seiner Rede das Amtsgericht Neuss als ‚zweiten Tatort‘, da in dem Gerichtsverfahren das politische Motiv der Tat nicht erkannt und verhandelt wurde. Die Angehörigen wurden im Gericht mit Spürhunden durchsucht, „während die Täter sich wie zu Hause verhielten“, so Orhan.

Am 27. Dezember 2022, dem 30. Jahrestag seines Todes, fand eine weitere Gedenkdemonstration in Solingen-Gräfrath statt. Die Teilnehmer*innen versammelten sich auf dem Gräfrather Markt und zogen anschließend zum ehemaligen Standort der vom Verfassungsschutz finanzierten Karateschule, in der der Täter trainiert hatte. Diese Demonstration wurde von verschiedenen antifaschistischen und antirassistischen Gruppen organisiert, um an Şahin Çalışır zu erinnern und auf die Kontinuität rechter Gewalt hinzuweisen.

In Erinnerung an den Ermordeten wurden das Gedenken sowie ein Gespräch mit Orhan Çalışır im Januar 2021 zudem als Kurzfilm veröffentlicht.

Das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen überprüfte ab Mitte 2022 im Rahmen seines Projekts „ToreG NRW“ (Todesopfer rechter Gewalt in NRW) 30 zurückliegende Gewaltdelikte aus den Jahren 1984 bis 2020 auf eine mögliche politische Tatmotivation, so auch den Fall Şahin Çalışır. Allerdings hätte es keinen Zugriff auf die Akten gegeben, weshalb der Fall noch immer noch nicht als rechtsmotiviert gilt.

Was ist geschehen

Diese Gedenkchronik thematisiert rechte, rassistische und antisemitische Gewalt, einschließlich spezifischer Vorfälle, Hintergründe und Folgen. Die Inhalte können belastende Beschreibungen von Gewalt, Diskriminierung und Leid enthalten.

Im folgenden ausklappbaren Abschnitt “Beschreibung der Tat” werden konkrete Gewalttaten geschildert. Wir möchten Betroffene und Leser*innen daher darauf hinweisen, dass die Auseinandersetzung mit diesen Inhalten retraumatisierend wirken kann. Bitte prüfen Sie vor dem Zugriff auf die Inhalte, ob Sie sich mental und emotional in der Lage fühlen, sich mit solchen Themen auseinanderzusetzen und tun sie dies ggf. nicht allein.

Am 27. Dezember 1992 verfolgten drei Personen mit Verbindungen zur neonazistischen Kampfsportgruppe Hak-Pao in Solingen-Gräfrath und zur rechten Hooliganszene Şahin und seine beiden Begleiter auf der Autobahn 52 in der Nähe von Meerbusch (Nordrhein-Westfalen). Sie nahmen Şahins Fahrzeug ins Visier, bedrängten ihn aggressiv und setzten ihn so lange unter Druck, bis er die Kontrolle über seinen Wagen verlor und in die Leitplanken prallte. Aus Panik verließen Şahin und seine Begleiter das Auto und flüchteten auf die Autobahn. Dabei wurde Şahin von einem anderen Fahrzeug erfasst und tödlich verletzt.

Das Amtsgericht in Neuss erkannte trotz Teilgeständnissen zweier Täter bei der Polizei kein rassistisches Motiv für die Verfolgungsjagd und stuften Şahins Tod lediglich als Verkehrsunfall ein. Der Fahrer des Täterfahrzeugs wurde schließlich zu 15 Monaten Haft wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung verurteilt. Während seiner Haftzeit schrieb der Täter über Şahin Çalışır: „Das mit dem Herumlaufen hat sich für ihn erledigt.“ Allerdings fand diese abscheuliche Aussage vor Gericht keine Beachtung. Diese politische und juristische Einschätzung hat sich auch nach 31 Jahren nicht geändert. Daher wird das Amtsgericht Neuss als zweiter Tatort angesehen – ein Ort, an dem Şahin Çalışır ein weiteres Mal symbolisch „getötet“ wurde.

Quellen

Çalışır, O. & Demir, Z. (2024). Erinnern und Gedenken an Şahin Çalışır. IKG Science Blog, Institute for Interdisciplinary Research on Conflict and Violence, Bielefeld University. https://blogs.uni-bielefeld.de/blog/ikgscience/mediaresource/8b4dea3e-d676-4f04-a0dc-f320c2c36376

Çalışır, Orhan (2024): 27. Dezember 1992, Neuss. 30. Jahrestag des Anschlags in Solingen. In: A. Şirin (Hrsg.), Erinnern heißt Kämpfen – Kein Schlusstrich unter unsere Stimmen (S. 81-83). Münster: Unrast Verlag.

Çalışır, Orhan (2023): „Vielleicht hätte der Solinger Brandanschlag verhindert werden können“ – Eine Erinnerung an Şahin Çalışır und kritische Gedanken zu einem fragwürden Prozess. In: B. Demirtaş, A. Schmitz, D. Gür-Şeker, C. Kahveci (Hrsg.) Solingen, 30 Jahre nach dem Brandanschlag: Rassismus, extrem rechte Gewalt und die Narben einer vernachlässigten Aufarbeitung (S. 119-126). Bielefeld: transcript Verlag.

Demir, Zeynep (2024): Rassismus in Deutschland– Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In: R. Becker, G. Damat, E. Georg, T. Johann, & B. Milbradt (Hrsg.) Lessons learnt? Die rechtsterroristischen Anschläge von Halle und Hanau: Bewältigung und Aufarbeitung durch Zivilgesellschaft und Politik, Pädagogik und Beratung (S. 201-218). Frankfurt am Main: Wochenschau Verlag.

Çalışır, O. (2020). In Gedenken an Şahin Çalışır, 27.12.2020, Neuss. Rede vor dem Amtsgericht. https://www.youtube.com/watch?v=CuPqbDhGCcM  

Postrak, D. (2020): Dokumentation/Orhan Çalışır im Rahmen einer antirassistischen Gedenkveranstaltung “Erinnerung an Şahin Çalışır”. https://vimeo.com/497312093   

https://doing-memory.de/sahin-calisir/