Hintergrund
Bei dem rechtsterroristischen Nagelbombenanschlag des NSU vor dem Friseursalon von Özcan Y. auf der Kölner Keupstraße am 9. Juni 2004 wurden 22 Menschen zum Teil schwer verletzt. Nur durch Zufall kam niemand zu Tode. Die Initiative “Keupstraße ist überall” unterscheidet zwischen diesen 22 direkt Betroffenen sowie den zahlreichen indirekt Betroffenen, die während des Anschlags zwar körperlich unverletzt blieben, jedoch psychische Folgeschäden durch das Gesehene davontrugen, die sie in ihrer Lebensqualität bis heute einschränken.
Statt die Aussagen der Betroffenen ernst zu nehmen, die von Anfang an eine rassistische Motivation des Angriffs nahelegten, spielten die Behörden eine terroristische Bedrohung durch rechtsextreme Netzwerke herunter, ermittelten stattdessen gegen die Geschäftsbetreiber*innen und Anwohner*innen selbst und brachten diese durch einschüchternde Verhöre gezielt zum Schweigen. Es folgte eine jahrelange Stigmatisierung und Verunglimpfung der Keupstraße als “kriminelles Milieu”, was mit deren wirtschaftlichem Niedergang einherging.
Jedoch gelang es den Betroffenen, den aufgezwungenen Raum des Schweigens zu durchbrechen. Die Selbstenttarnung des NSU 2011 stellte hierfür einen entscheidenden Wendepunkt dar, denn nun waren sie offiziell nicht mehr Tatverdächtige, sondern Betroffene der Bombe. Ermutigt durch die Initiative „Dostuk Sinemasi“ teilten die Anwohner*innen und Geschäftsbetreiber*innen der Keupstraße bei einer antirassistischen Filmreihe 2013 erstmals öffentlich ihre traumatischen Erfahrungen und prangerten die rassistischen Polizeiermittlungen sowie die mediale Hetze gegen sie an. Gemeinsam mit Unterstützer*innen beginnen sie sich in der Initiative “Keupstraße ist überall” zu organisieren und für Erinnerung, Aufklärung, Gerechtigkeit und vor allem politische Konsequenzen zu kämpfen.
Die Initiative hatte sich zunächst zum Ziel gesetzt, die vielen Nebenkläger*innen zum seit 2013 laufenden NSU-Verfahren in München zu begleiten und ihre Perspektiven in die Öffentlichkeit zu tragen. Dies hatte eine enorme Ausstrahlungswirkung und ermutigte in der Folge auch andere Betroffene rassistischer, rechter und antisemitischer Gewalt, ihre Geschichten öffentlich zu teilen. Durch diesen neu erkämpften Diskursraum konnte zudem eine Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung angestoßen werden, in welcher nicht mehr das Täternarrativ sondern die Betroffenenperspektive zentral gesetzt wurde.