Enver
Şimşek

11. September 2000

Nürnberg

Leben des Opfers

Enver Şimşek wurde am 4. Dezember 1961 in Salur, einem kleinen Dorf in der Türkei, geboren. Er wuchs in einer ländlichen Umgebung auf, wanderte jedoch 1985 nach Deutschland aus, um sich und seiner Familie eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Enver war verheiratet und Vater von zwei Kindern, Semiya und Abdul Kerim. Mit Fleiß und Durchhaltevermögen baute er sich ein Leben in Deutschland auf und engagierte sich als Familienvater für das Wohlergehen seiner Angehörigen.

Enver arbeitete vorerst in einer Autoteilfabrik am Fließband, übernahm freiwillig Nachtschichten und machte Überstunden. Nach Feierabend band er im Keller des Hauses, in dem er mit seiner Familie wohnte, Blumensträuße und verkaufte sie am Wochenende am Straßenrand. Irgendwann kündigte er seinen Job und erfüllte sich seinen Traum vom eigenen Blumenhandel “Şimşek Blumen”.

Das Geschäft lief sehr gut und entwickelte sich zu einem Blumengroßhandel mit angeschlossenen Läden und Ständen. Enver arbeitete nun sieben Tage die Woche und war oft unterwegs, um seine Kund*innen zu beliefern. Denn der zweifache Vater hatte noch einen Traum: Eines Tages wollte er wieder in seinem Heimatdorf Salur leben, umgeben von den Bergen und den Menschen, die ihm Zeit seines Lebens vertraut blieben.

Formen des Gedenkens

Enver Şimşek steht symbolisch für den Schmerz, den Rassismus und rechtsextreme Gewalt verursachen, aber auch für die Notwendigkeit von Gedenken, Solidarität und gesellschaftlichem Engagement gegen Diskriminierung. Seine Familie kämpft bis heute für Gerechtigkeit und setzt sich für Aufklärung und Erinnerungsarbeit ein, um sicherzustellen, dass solche Taten nicht vergessen und wiederholt werden.

Seine Tochter Semiya Şimşek ist seit ihrer Rede auf der Gedenkfeier für die NSU-Opfer Anfang 2012 im Konzerthaus Berlin bundesweit bekannt geworden und gilt seitdem als „Gesicht der Opferfamilien“. In ihrem 2013 veröffentlichten Buch „Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater“ teilt sie ihre bewegende Geschichte, klärt über die Hintergründe der rassistischen Fehlermittlungen und traumatischen Folgen für die Opferfamilien auf und reflektiert ihr ambivalentes Verhältnis zu Deutschland. Auch in öffentlichen Veranstaltungen spricht sie über ihre Erfahrungen: Sie setzt sich gemeinsam mit anderen Angehörigen und Hinterbliebenen gegen das Vergessen sowie die Bagatellisierung des NSU-Terrors und für den Kampf um Gerechtigkeit ein.

Darüber hinaus haben zahlreiche Initiativen und einige deutsche Städte Gedenk- und Erinnerungsorte geschaffen, um das Andenken an Enver Şimşek lebendig zu halten.

Ein Jahr nach der Enttarnung des NSU beschlossen die Oberbürgermeister der Städte Kassel, Nürnberg, München, Rostock, Dortmund, Heilbronn und Hamburg, in denen die Morde begangen wurden, Gedenktafeln zu errichten.

Am 21. März 2013, dem „Internationalen Tag gegen Rassismus“, wurde eine Gedenkstele in Nürnberg eingeweiht, ein hoher freistehender Grabstein, welcher an alle NSU-Opfer erinnern soll. Dieser befindet sich in unmittelbarer Nähe der „Straße der Menschenrechte“ und wurde von der Stadt Nürnberg in enger Zusammenarbeit mit den Angehörigen entwickelt. Neben der Stele gehören vier Ginkgo-Bäume zum Mahnmal, von denen drei für die Nürnberger Opfer der NSU-Terrorzelle stehen und der vierte für alle anderen Opfer rechtsextremer Gewalt.

Im September 2014 wurde am Tatort in Nürnberg eine Gedenktafel für Enver Şimşek angebracht. Diese wurde später von Unbekannten gestohlen, woraufhin die Gruppe “Das Schweigen durchbrechen” ein Schild mit Şimşeks Bild installierte.

Das Bündnis für Demokratie und Toleranz in Zwickau pflanzte am 8. September 2019 eine Europäische Eiche zum Gedenken an Enver Şimşek, welche jedoch wenige Wochen später von Unbekannten gefällt wurde. Daraufhin wurden am 3. November 2019 zehn neue Gedenkbäume gepflanzt und Gedenktafeln installiert. Die Einweihung stieß jedoch auf Kritik wegen eines Schreibfehlers im Namen Şimşek und der fehlenden Einladung von Angehörigen und Überlebenden.

Darüber hinaus wurden seit 2020 mehrere symbolträchtige Orte in Enver-Şimşek-Platz umbenannt, u.a. ein Platz in Jena-Winzerla, wo die Täter aufgewachsen sind sowie die Jenaer Nahverkehr-Haltestelle Damaschkeweg. Der Tatort Liegnitzer Straße in Nürnberg, an dem Enver ermordet wurde, heißt seit dem 13. September 2021 ebenfalls Enver-Şimşek-Platz. Die anliegenden Gemeinden Altenfurt, Moorenbrunn, Langwasser und Fischbach haben sich zusammengetan, um das Verbrechen, das sich in ihrem direkten Lebensumfeld ereignet hat, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Im Juni 2024 wurde zudem in unmittelbarer Nähe des Thüringer Landtags der Erinnerungsort “Schattenwurf” eingeweiht, gestaltet vom Stuttgarter Künstlerduo Dagmar Korintenberg und Wolf Kipper. Mit dem Erinnerungsort für die Opfer des NSU bekennt sich der Freistaat Thüringen zu seiner besonderen Verantwortung für die beispiellose Mord- und Anschlagsserie.

2020 schlossen sich Theater und Institutionen aus 15 Städten zusammen, um gemeinsam das interdisziplinäre Theaterprojekt Kein Schlussstrich! zu realisieren – mit dem Anliegen, die Taten und Hintergründe des NSU künstlerisch zu thematisieren. Das bundesweite Theaterprojekt erinnert an die NSU-Opfer und rückt durch Inszenierungen, Ausstellungen, Konzerte, musikalische Interventionen im öffentlichen Raum, Lesungen, Diskussionen, Workshops u.v.m. die Perspektiven der Familien der Opfer und (post-)migrantischen Communities in den Mittelpunkt.

Was ist geschehen

Diese Gedenkchronik thematisiert rechte, rassistische und antisemitische Gewalt, einschließlich spezifischer Vorfälle, Hintergründe und Folgen. Die Inhalte können belastende Beschreibungen von Gewalt, Diskriminierung und Leid enthalten.

Im folgenden ausklappbaren Abschnitt “Beschreibung der Tat” werden konkrete Gewalttaten geschildert. Wir möchten Betroffene und Leser*innen daher darauf hinweisen, dass die Auseinandersetzung mit diesen Inhalten retraumatisierend wirken kann. Bitte prüfen Sie vor dem Zugriff auf die Inhalte, ob Sie sich mental und emotional in der Lage fühlen, sich mit solchen Themen auseinanderzusetzen und tun sie dies ggf. nicht allein.

Am Samstag, den 9. September 2000, vertrat der damals 38-jährige Enver Şimşek einen Angestellten an seinem mobilen Blumenstand in Nürnberg. Beim Sortieren von Blumen in seinem Lieferwagen wurde er gegen Mittag von zwei Männern mit einer Schusswaffe brutal ermordet. Der schwerverletzte Şimşek wurde erst Stunden später gefunden und verstarb zwei Tage später, am 11. September 2000, an den Folgen des Attentats. Erst Jahre später sollte sich herausstellen, dass es sich bei den Tätern um Mitglieder der rechtsextremen Terrorzelle “Nationalsozialistischer Untergrund” handelte.

Enver Şimşek war das erste der insgesamt zehn Mordopfer der rechtsextremen Terrorist*innen. Es dauerte mehr als ein Jahrzehnt, bis die Tat und ihr rechtsextremer Hintergrund aufgeklärt wurde. Die Ermittlungen konzentrierten sich zunächst auf das Umfeld der Opfer, was die Familie zusätzlich belastete und sekundär traumatisierte. Erst 2011, nach dem Auffliegen des NSU, wurde das wahre Ausmaß der Verbrechen bekannt. Der Mord an Şimşek und die nachfolgenden Taten des NSU führten zu intensiven Diskussionen über institutionellen Rassismus und Versäumnisse der Sicherheitsbehörden in Deutschland.