Betroffene
Rostock-Lichtenhagen

22. August 1992

Rostock-Lichtenhagen

Hintergrund

Die tagelangen rassistischen Angriffe auf das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen 1992 richteten sich gegen Asylsuchende, die in der dortigen Erstaufnahmestelle untergebracht waren und gegen vietnamesische Rostocker*innen, die im Nachbaraufgang lebten. Während der Angriffe wurden sie von der Polizei nur unzureichend geschützt. Mindestens zweimal mussten sie Betroffene nach Bränden selbst aus dem Haus retten.

Bis heute ist unklar, wie viele Menschen das Pogrom in der Erstaufnahmestelle überlebten oder aus welchen Ländern sie kamen. Die einzigen heute bekannten Betroffenen sind Rom*nja aus dem Süden Rumäniens. Sie kamen Anfang der 1990er Jahre nach Deutschland, um der antiziganistischen Diskriminierung in Rumänien zu entgehen und ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen.

Die angegriffenen vietnamesischen Rostocker*innen waren in den 1980er Jahren als sogenannte „Vertragsarbeiter“ nach Deutschland gekommen. Die meisten von ihnen lebten 1992 bereits mehrere Jahre im Sonnenblumenhaus. Während des Pogroms verteidigten sie sich selbst und organisierten sich bereits im Oktober 1992 im Verein “Diên Hồng – Gemeinsam unter einem Dach”.

Die Betroffenen des Pogroms erhielten von staatlicher Seite weder Angebote für Entschädigungen oder Schadensersatz noch für Unterstützung in Form von Beratung, psychologischer Betreuung oder individueller Hilfe. Vermutlich verließen die meisten der betroffenen Asylsuchenden Mecklenburg-Vorpommern wieder, um der andauernden Gewalt und drohenden Abschiebungen zu entgehen oder wurden abgeschoben. Erst 1997 wurde das Bleiberecht der ehemaligen Vertragsarbeitnehmer*innen aus Vietnam endgültig politisch geregelt. Zehn Jahre nach den Ereignissen entschuldigte sich der damalige Rostocker Oberbürgermeister, Arno Pöker, erstmals offiziell bei den vietnamesischen Betroffenen. 2022 nahm erstmals eine Vertreterin der betroffenen Rom*nja, Izabela Tiberiade, an einer offiziellen Gedenkveranstaltung teil.

Formen des Gedenkens

Einen ersten Versuch zur Errichtung eines Erinnerungsortes gab es bereits wenige Wochen nach dem Pogrom. Die „Söhne und Töchter der deportierten Juden aus Frankreich“ und der Roma National Congress brachten am 19. Oktober 1992 eine Gedenktafel am Rathaus an und besetzten die Räume der CDU-Fraktion im Rathaus. Damit wollten sie sowohl an die rassistische Gewalt erinnern als auch gegen die drohende Abschiebung von Betroffenen des Pogroms protestieren. Bei Auseinandersetzungen mit der Polizei wurden viele der Aktivist*innen verhaftet und die Gedenktafel kurz darauf entfernt.

In den folgenden Jahren hielten vor allem zivilgesellschaftliche Initiativen und Engagierte aus dem Kultur-, Medien- und Wissenschaftsbereich die Erinnerung an die Ereignisse wach. Mit vielfältigen Formaten wurde versucht, eine Beschäftigung mit dem Pogrom und dessen Folgen für die Gegenwart zu schaffen.

Zum zehnten Jahrestag des Pogroms 2002 richtete die Rostocker Bürgerschaft eine Gedenkveranstaltung aus. Der damalige Oberbürgermeister Arno Pöker entschuldigte sich hier erstmals öffentlich bei den Betroffenen der rassistischen Gewalt und forderte eine fortwährende Auseinandersetzung der Stadtgesellschaft mit den Ereignissen.

Unterschiedliche Blickwinkel prägen bis heute die Aktivitäten zum Gedenken an das Pogrom. Während zum Beispiel die einen die Wandlung Rostocks zu einer weltoffenen und toleranten Stadt betonen, weisen andere auf die Kontinuitäten von Rassismus und rechter Gewalt hin.

Diese verschiedenen Sichtweisen wurden zum 20. Jahrestag des Pogroms im August 2012 besonders deutlich. Während die Bürgerschaft ein Fest vor dem Sonnenblumenhaus unter dem Motto „Lichtenhagen bewegt sich“ ausrichten ließ, demonstrierten mehr als 6.500 Menschen unter dem Motto „Das Problem heißt Rassismus – Grenzenlose Solidarität“ durch Rostock.

Eine von der Stadt Rostock als Erinnerungszeichen gepflanzte „Friedenseiche“ vor dem Sonnenblumenhaus wurde wenige Tage nach der Gedenkveranstaltung abgesägt. In einer Erklärung hieß es, die Eiche als „Symbol für Deutschtümelei und Militarismus“ könne kein würdiges Erinnerungszeichen für das rassistische Pogrom sein.

Kurz darauf wurde durch die Kommune die „Arbeitsgruppe Gedenken“ gegründet. Hier beraten seitdem Vertreter*innen der Rostocker Bürgerschaftsfraktionen, Stadtverwaltung und Stadtgesellschaft über ein angemessenes Gedenken zu verschiedenen Themenfeldern. Zum Gedenken an das Pogrom in Lichtenhagen initiierte die Arbeitsgruppe einen Kunstwettbewerb, aus dem das 2017/2018 eingeweihte dezentrale Denkmal „Gestern Heute Morgen“ hervorging.

Die Perspektiven der Betroffenen des Pogroms spielten im Gedenken lange kaum eine Rolle. Erst 2022 nahm mit Izabela Tiberiade eine Vertreterin der betroffenen Rom*nja, an einer offiziellen Gedenkveranstaltung teil. 2023 besuchten erstmals Betroffene aus Rumänien wieder Rostock und sprachen bei einer Veranstaltung im Rathaus. 2024 fand die erste öffentliche Veranstaltung mit Vertreter*innen der Rom*nja-Community in Craiova und der viet-deutschen Community in Rostock statt.

Was ist geschehen

Diese Gedenkchronik thematisiert rechte, rassistische und antisemitische Gewalt, einschließlich spezifischer Vorfälle, Hintergründe und Folgen. Die Inhalte können belastende Beschreibungen von Gewalt, Diskriminierung und Leid enthalten.

Im folgenden ausklappbaren Abschnitt “Beschreibung der Tat” werden konkrete Gewalttaten geschildert. Wir möchten Betroffene und Leser*innen daher darauf hinweisen, dass die Auseinandersetzung mit diesen Inhalten retraumatisierend wirken kann. Bitte prüfen Sie vor dem Zugriff auf die Inhalte, ob Sie sich mental und emotional in der Lage fühlen, sich mit solchen Themen auseinanderzusetzen und tun sie dies ggf. nicht allein.

Seit 1979 befanden sich in den Aufgängen Nr. 18 und 19 des Sonnenblumenhauses ein Wohnheim für Vertragsarbeiter*innen aus Vietnam und vermutlich auch aus Kuba, Mozambique und Algerien. Nach 1989 verließen viele der Vertragsarbeiter*innen Deutschland. Im Sonnenblumenhaus lebten im Aufgang Nr. 19 nun noch etwa 100 Menschen aus Vietnam. Im Aufgang Nr. 18 wurde im Dezember 1990 die Zentrale Aufnahmestelle für Asylsuchende (ZASt) des Landes Mecklenburg-Vorpommern eingerichtet. Die ZASt war ab dem Sommer 1991 wiederholt überfüllt. Im Sommer 1992 mussten Asylsuchende teils tagelang ohne jegliche Versorgung vor dem Gebäude ausharren.

Mit Steinen und Brandsätzen griffen vom 22. bis 24. August 1992 mehrere hundert Gewalttäter*innen mit Unterstützung und unter Applaus von bis zu 3.000 Zuschauer*innen die Erstaufnahmestelle für Asylsuchende im Aufgang Nr. 18 und das Wohnheim der ehemaligen Vertragsarbeiter*innen aus Vietnam im Aufgang Nr. 19 an. Der Polizei gelang es über drei Tage nicht, die Anschläge zu unterbinden und die Angegriffenen ausreichend zu schützen. Mindestens einmal mussten sich nach einem Brand Asylsuchende selbst aus dem Haus retten. Nach der Räumung der Erstaufnahmestelle am 24. August zog sich die Polizei zurück und die Gewalttäter*innen setzten das Haus in Brand. Die im Haus eingeschlossenen vietnamesischen Rostocker*innen retteten sich über das Dach des brennenden Gebäudes selbst.

Die tagelangen Angriffe in Rostock-Lichtenhagen gelten heute als das größte Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte. Statt effektiven Schutz für die Betroffenen rechter Gewalt folgten dem Pogrom Abschiebungen und eine grundlegende Verschärfung der Asylgesetze.