Saime
Genç

29. May 1993

Solingen

Leben des Opfers

Saime, die sehr gerne Alm­suppe aß, war gerade vier Jahre alt und freute sich sehr, nach den Sommerferien in den Kindergarten gehen zu können. Saime ist die jüngere Schwester von Hülya, weitere Geschwister hatte sie nicht. Sie hatte, wie ihre Schwester Hülya, braune Haare und braune Augen. Saime war ein sehr fröhliches und munteres Kind und liebte es, mit anderen Kindern zu spielen, am liebsten im Park Bärenloch, der nur ein paar Schritte von ihrem Haus entfernt war. Saime spielte auch sehr gerne mit ihrer Cousine Güldane Ince, die etwas jünger war als sie. Tagsüber spielte sie gerne mit ihren Puppen und kleidete sie mehrmals an und aus. Sie zog es vor, mit den selbst gebastel­ten Puppen ihrer Mutter zu spielen. Wenn sie keine Lust mehr auf ihre Puppen hatte, ging sie an die Kleiderkiste und verwandelte sich in eine Prinzessin oder zog andere Kleidungsstücke über und probte Kunststücke. Saime mochte es gerne, sich zu verkleiden und ließ sich dabei von ihrer Mutter fotografieren. Manchmal zog sie auch viel zu große Schuhe an und betrachtete sich dann im Spiegel. Wenn auf einem Familienbild die kostümierte Saime zu sehen war, freuten sich die Betrachter:innen mit ihr, weil sie stets ein Lachen im Gesicht trug.

Saimes Urgroßmutter wohnte in der Türkei und hatte einen großen Bauernhof, auf dem viele Tiere lebten. Wenn Saime in der Türkei zu Besuch war, durfte sie immer die Tiere füttern. Vor großen Tieren hatte sie Respekt und suchte sich meistens Tiere aus, die nicht größer waren als sie selbst. Manchmal aßen kleine Lämmer sogar aus ihrer Hand, was Saime sehr freute.

Formen des Gedenkens

Das lokale Erinnern an die fünf Opfer war nicht selbstverständlich und von einigen Kontroversen zwischen der Stadtverwaltung/Kommunalpolitik und Familie Genç begleitet. Zum einen möchte die Klingenstadt nicht nur im Zusammenhang mit dem Anschlag wahrgenommen werden, zum anderen organisiert die Stadt kommunale Gedenkveranstaltungen, an Jahrestagen auch in Anwesenheit von Vertreter*innen der Landes- und Bundespolitik (vgl. Demirtaş et al. 2023:25).

Seit 1994 wird in Solingen fortwährend an zwei Standorten an den Brandanschlag und die getöteten jungen Frauen und Mädchen erinnert. Der für Familie Genç wichtige und eigentliche Erinnerungsort befindet sich an der Unteren Wernerstraße 81, dem ehemaligen Wohnort der Familie, an dem die fünf Menschen ermordet wurden. Hier trauert und erinnert die Familie zusammen mit einem eher kleinen Kreis von Unterstützer*innen überwiegend der deutsch-türkeistämmigen Community.  Erst 1995 wurde an der Unteren Wernerstraße 81 ein Gedenkstein von der Jugendhilfe-Werkstatt-Solingen angebracht mit den Namen der Opfer und dem Hinweis, dass sie durch eine rassistische Tat getötet wurden. Beim Gedenken an der Unteren Wernerstraße wurden seit 1994 jedes Jahr die Portraits der Opfer lediglich von den türkeistämmigen Menschen auf tragbaren Transparenten gezeigt.

Für die offizielle Gedenkveranstaltung hat die Stadt Solingen schon zum ersten Jahrestag einen anderen Ort ausgewählt, der allerdings nicht mit Familie Genç abgestimmt worden ist (Genç, H. 2023; Genç, K. 2023). Seit 1994 organisiert die Stadt das kommunale Gedenken an einem Mahnmal auf dem Gelände des Mildred-Scheel-Berufskollegs. Dieses Mahnmal wurde, weil die Stadt nach dem Brandanschlag selbst wenig Initiative zur Errichtung eines Denkmals zeigte, von der Jugendhilfe-Werkstatt Solingen in Eigeninitiative konzipiert und aufgrund enger Kooperationen mit dem Mildred-Scheel-Berufskolleg auf deren Gelände errichtet.  Die inhaltliche Gestaltung und die erinnerungspolitische Standortbestimmung dieses Mahnmals wurde damals ebenfalls nicht mit Familie Genç abgestimmt. Am 29. Mai 1994, dem ersten Jahrestag des Brandanschlags, wurde das Mahnmal eingeweiht. Tausende Menschen nahmen an der Einweihungsfeier teil, gedachten der Opfer und demonstrierten gegen Rassismus.

Schon direkt nach dem Anschlag kämpfte Mevlüde Genç trotz ihrer Trauer, ihres Leids und Schmerzes für Erinnern, Gedenken, Anerkennung und für die Sichtbarkeit ihrer getöteten Töchter und Enkelinnen. Ohne ihre Kämpfe wären einige der gegenwärtigen Gedenk- und Erinnerungsformate in Solingen nicht zustande gekommen. Die Gedenktafeln und sieben Stelen, die zum 30. Jahrestag in Solingen entstanden sind, gehen insbesondere auf Forderungen von Mevlüde Genç und anderer Familienmitglieder zurück, die sich im privaten und im öffentlichen  Kontext immer wieder dafür einsetzten, die Gesichter der ermordeten Menschen sichtbar zu machen. Mevlüde Genç engagierte sich unmittelbar nach dem Anschlag bis zu ihrem Tod am 30.10.2022 für das friedliche Zusammenleben und gegen Rassismus. Sie bewies schon direkt nach dem Anschlag menschliche Größe, als Menschen ihre kollektive Wut in Form von heftigen Protesten und Demonstrationen mit teilweise gewalttätigen Ausschreitungen auf den Straßen zeigten. Sie forderte trotz ihres unermesslichen Schmerzes und der Trauer ein Ende der gewalttätigen Proteste.

Was ist geschehen

Diese Gedenkchronik thematisiert rechte, rassistische und antisemitische Gewalt, einschließlich spezifischer Vorfälle, Hintergründe und Folgen. Die Inhalte können belastende Beschreibungen von Gewalt, Diskriminierung und Leid enthalten.

Im folgenden ausklappbaren Abschnitt “Beschreibung der Tat” werden konkrete Gewalttaten geschildert. Wir möchten Betroffene und Leser*innen daher darauf hinweisen, dass die Auseinandersetzung mit diesen Inhalten retraumatisierend wirken kann. Bitte prüfen Sie vor dem Zugriff auf die Inhalte, ob Sie sich mental und emotional in der Lage fühlen, sich mit solchen Themen auseinanderzusetzen und tun sie dies ggf. nicht allein.

In der Nacht des 29. Mai 1993 starben fünf Menschen dem rassistischen und rechtsextrem motivierten Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç in Solingen: Saime Genç (4), Hülya Genç (9), Hatice Genç (18), Gürsün İnce (27) und Gülüstan Öztürk (12). 14 weitere Familienmitglieder wurden zum Teil schwer verletzt, einige müssen noch immer medizinisch versorgt werden. Die Opfer waren Familienangehörige von Mevlüde und Durmuş Genç, die in den 1970er Jahren mit drei Kindern aus der Türkei nach Deutschland eingewandert waren. Die physischen und psychischen Folgen des Anschlags sind für die Überlebenden und deren Angehörigen auch nach über 30 Jahren schmerzvoll spürbar. Für sie gibt es kein Vergessen.

Quellen

Demirtaş, Birgül (Hg.) (2023): “Da war doch was!” – der Brandanschlag in Solingen 1993. Hintergrundwissen und rassismuskritische Materialien für die pädagogische Praxis. 1. Auflage. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.

Demirtaş, Birgül; Schmitz, Adelheid; Kahveci, Çağrı; Gür-Şeker, Derya (Hg.) (2023): Solingen, 30 Jahre nach dem Brandanschlag. Rassismus, extrem rechte Gewalt und die Narben einer vernachlässigten Aufarbeitung. Transcript GbR. Bielefeld: transcript (Edition Politik, 142).