Armela
Segashi

22. Temmuz 2016

München

Leben des Opfers

Die folgenden Auszüge sind Zitate aus dem Projekt “Tell their stories”, eine Publikation herausgegeben vom NS-Dokumentationszentrum München in Kooperation mit der Initiative “München OEZ erinnern!”. Die Texte können digital in voller Länge auf der Website https://www.stories.nsdoku.de/tell-their-stories nachgelesen werden.

Ausschnitt der Rede von Arberia Segashi, Armelas Schwester, anlässlich des siebten Jahrestages des Anschlags:

Bei uns zu Hause war es immer ziemlich still und ruhig, bis Armela auf die Welt kam. Sie hat Wind in unsere Familie gebracht, sie hat das Haus zum Leben erweckt. Mit ihrem friedlichen Gemüt hat sie es jedes Mal geschafft, uns auch in stressigen oder ernsten Situationen in unserem Leben das Gefühl von Ruhe und Hoffnung zu geben. Mit ihrer offenen, lockeren und positiven Art hat sie es jedes Mal geschafft, die Menschen um sich herum für sich zu gewinnen. Sie hat uns ein Gefühl von Geborgenheit gegeben, das Gefühl, jemanden zu haben, dem man Vertrauen kann. Egal, wer ein Problem hatte, oder ob jemanden etwas bedrückt hat, wir wollten immer zu Armela. Ich bin heute 25 und weiß manchmal selber noch nicht, was ich will oder was mir gefällt, aber sie hatte schon in ihren jungen Jahren für sich selbst entschieden, was sie für Zukunftswünsche hat und wo sie sich jetzt zu dieser Zeit gesehen hätte. Sie hat oft lachend gesagt: «Für was brauche ich Mathe oder die Schule, ich mache meinen Abschluss und werde Make Up Artistin.» Leider wurde ihr dieser Traum genommen.

Formen des Gedenkens

Der Anschlag vom 22. Juli 2016 wurde bundesweit und vor Ort in München jahrelang nicht als rechtsterroristischer Anschlag erinnert. Stattdessen setzte sich das durch die Ermittlungsbehörden gesetzte Narrativ des unpolitischen Amoklaufs durch. Die rassistische Tatmotivation und die Perspektive der Angehörigen der Opfer und Überlebenden blieben weitgehend unbeachtet, ebenso eine Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen, die die Tat ermöglichten. Angehörige und Überlebende berichten von mangelnder Unterstützung durch Behörden, fehlender Anerkennung in der Öffentlichkeit und ausbleiben der Solidarität seitens der Zivilgesellschaft. Der Anschlag am OEZ in München markiert den Beginn eines neuen Kapitels von Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik. Der Anschlag am OEZ in München muss mit den Anschlägen in Kassel, Halle und Hanau benannt werden und somit Teil der kollektiven Erinnerungskultur werden.

Die Anerkennung und Aufarbeitung der Tat wurden von staatlicher Seite erst spät und auf Druck von Betroffenen und wenigen Engagierten hin eingeleitet. Nachdem die Stadt München bereits 2017 durch wissenschaftlichen Gutachten das Narrativ des unpolitischen Amoklaufs widerlegte, erkannte schließlich das Bundesministerium für Justiz 2018 die rechte rassistische Tatmotivation offiziell an. Die bayrischen Behörden folgten dieser Einordnung erst 2019. Trotz der kontinuierlichen Auseinandersetzungen herrschte in München eine „unerträgliche Stille“, wie Cans Mutter Sibel Leyla beschreibt. Eine breite Solidarität und ein würdiges Gedenken der Opfer fehlen ebenso wie eine angemessene Aufarbeitung des rechten Terrors.

Daher schlossen sich seit dem Frühjahr 2022 einige Angehörige der Opfer, Überlebende des Anschlags sowie Unterstützer*innen in der Initiative “München OEZ erinnern!” zusammen. Gemeinsam setzen sie sich für angemessene Erinnerung, Aufklärung und vor allem Konsequenzen ein. Zum 6.Jahrestag des OEZ-Anschlags organisierte die Initiative einen Trauermarsch durch München und nach der städtischen Gedenkveranstaltung ein betroffenenzentriertes Gedenken. Zeitgleich fanden bundesweit erstmals Gedenkaktionen an den OEZ-Anschlag statt. In Deutschland und darüber hinaus wurden so die Namen und Gesichter der neun Ermordeten des OEZ-Anschlags öffentlich sichtbar. Am 7. Jahrestag des Anschlags (22.7.2023) wurde die jährliche Gedenkveranstaltung der Stadt München erstmals in enger Absprache und nach den Bedürfnissen und Wünschen der Angehörigenfamilien und Überlebenden gestaltet. 2024 entstand neben der jährlichen Gedenkveranstaltung auch eine Kulturveranstaltung unter dem Motto “We will shine for these nine”. Dort wurde eine von der Initiative erarbeitete szenische Lesung vorgestellt, die sich kritisch mit der Rolle der Ermittlungsbehörden im Umgang mit dem OEZ-Anschlag auseinandersetzte. Bei einer Podiumsdiskussion wurden Parallelen und Unterschiede im Umgang mit rechten, rassistischen und antisemitischen Anschlägen und tödlicher Polizeigewalt aufgezeigt. Alle Diskutant*innen waren Angehörige und Überlebende, die sich im Solidaritätsnetzwerk engagieren. Zuletzt traten neben solidarischen Musiker*innen auch das Rap-Kollektiv WORD UP! mit dem Song “Für Immer” auf. Der Song wurde gemeinsam mit Jugendlichen und Angehörigen und Überlebenden erarbeitet.

Auch für die folgenden Jahre bleibt die Frage im Raum, warum die Einordnung des OEZ-Anschlags als rechter rassistischer Anschlag so lange dauerte. Die Initiative fragt: Braucht es immer erst weitere Tote, damit rechter Terror ernst genommen wird? Wo war diese Sensibilität im Jahr 2016? Und hat Deutschland tatsächlich so ein kurzes Gedächtnis hinsichtlich der Existenz von rechten, rassistischen und antisemitischen Aktivitäten und Gewalttaten?

Was ist geschehen

Diese Gedenkchronik thematisiert rechte, rassistische und antisemitische Gewalt, einschließlich spezifischer Vorfälle, Hintergründe und Folgen. Die Inhalte können belastende Beschreibungen von Gewalt, Diskriminierung und Leid enthalten.

Im folgenden ausklappbaren Abschnitt “Beschreibung der Tat” werden konkrete Gewalttaten geschildert. Wir möchten Betroffene und Leser*innen daher darauf hinweisen, dass die Auseinandersetzung mit diesen Inhalten retraumatisierend wirken kann. Bitte prüfen Sie vor dem Zugriff auf die Inhalte, ob Sie sich mental und emotional in der Lage fühlen, sich mit solchen Themen auseinanderzusetzen und tun sie dies ggf. nicht allein.

Am 22. Juli 2016 wurden Armela Segashi, Can Leyla, Dijamant Zabërgja, Guiliano Kollmann, Hüseyin Dayıcık, Roberto Rafael, Sabine S., Selçuk Kılıç und Sevda Dağ beim rechtsterroristischen Anschlag am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München ermordet. Fünf weitere Personen wurden durch die Schüsse schwer verletzt. Der Täter wählte die Opfer gezielt nach rassistischen Kriterien aus, was schon während der Tat durch Ausrufe und dem Schießverhalten deutlich wurde. Trotz über 2.000 Einsatzkräften konnte der 18-Jährige über Stunden nicht gefasst werden, bis er sich in der Nähe des Tatorts suizidierte.

Die Ermittlungsbehörden fanden direkt nach der Tat diverse schriftliche Nachweise, welche eine rassistische Tatmotivation belegen. Sie stellten fest, dass der Täter insbesondere türkei- und balkanstämmige Menschen hasste und hoffte der Anschlag würde der AfD in die Hände spielen. Die Tat, bewusst am Jahrestag des rechtsextremen Anschlags von Utøya (22. Juli 2011) verübt, bei welchem 77 Menschen – ebenfalls vorrangig Jugendliche – ermordet wurden, richtete sich gezielt gegen Menschen mit Migrationshintergrund. Der Münchner Täter nutzte sogar dieselbe Tatwaffe als Referenz auf den international bekannten Rechtsterroristen von Utøya und Oslo. Zudem war der Münchner Täter international vernetzt mit weiteren Rechtsterroristen.

Auch die Wahl des OEZ als Tatort ist kein Zufall, dieser ist als migrantischer Rückzugsraum bekannt. Der Täter hatte sich intensiv mit diesem und umliegenden Vierteln beschäftigt und als Orte der Kriminalität markiert. Er verbreitete hierzu menschenfeindliche, rassistische und verschwörungsideologische Ansichten und erklärte dabei immer wieder, dass die einzige Lösung in der systematischen Vernichtung dieser Menschen liege.

Trotz all dieser Tatsachen wurde der Anschlag von staatlichen Institutionen als “Amoklauf” eingestuft. Die bayerischen Behörden vernachlässigten gezielt den Rassismus und propagierten das Bild eines psychisch kranken, gemobbten Einzeltäters. Die verzögerte Anerkennung des Anschlags als rechter Terror (bis 2019) hat weitreichende Folgen. Angehörige und Überlebende kämpften von Beginn an um Gerechtigkeit und eine angemessene Erinnerung, während sie von Behörden und der Gesellschaft oft allein gelassen wurden. Noch heute fehlt es an öffentlichem Gedenken, Solidarität und der gesellschaftlichen Aufarbeitung der Tat und ihrer Hintergründe.

Quellen

“Tell their stories” herausgegeben vom NS-Dokumentationszentrum München in Kooperation mit der Initiative München OEZ erinnern!

https://muenchen-erinnern.de